Oder: Das Web ist das, was Du daraus machst.
Ich bin jetzt 37 und ich halte mich für technikbegeistert und auch halbwegs up-to-date, was die modernen Techniken angeht. Beim Jugendslang habe ich sicherlich bereits meine Defizite. Genauso, wie wir früher angesagtes Vokabular hatten, dass unsere Eltern nicht verstanden, wird es die Jugend immer zu eigenen Wortkreationen bringen, die ihre Codes enthalten.
Das ist der Lauf der Dinge. Mit 37 steht man in der Regel im Leben. Irgendwo zwischen Job, Beziehung/Ehe, Finanzamt, Pärchenabenden und langweiligen Geburtstagspflichtveranstaltungen, die um 24 Uhr ihren Höhepunkt darin haben, dass einer der Gäste in die Zierblumen kotzt und der Rest der Veranstaltung zwei Wochen darüber reden kann. Früher haben alle in die Blumen gekotzt und gequatscht wurde über das stattgefundene Beziehungskarrussel oder über wilde Rumknutschereien, die gleich am nächsten Wochenende neue Konstellationen bereit hielten.
Man hat nicht mehr 800 Mitschüler auf dem Pausenhof um sich, fährt nicht mehr mit 80 anderen Leuten im Bus zur Schule und interagiert, schnappt auf, tauscht sich aus. Das soziale Umfeld wird zwangsläufig kleiner. Wenn man sich also in seinem Umfeld nicht mit einem Haufen weiterer technikbegeisterter Nerds umgibt, ereilen einen genauso zwangsläufig Defizite.
Halb so schlimm. Das Internet fängt alle auf. Die jugendlichen Nerds, die gut vernetzten Twens, die kreativen 30er, die suchenden 40er, die Freizeit-50er und auch die hobbygärtnernden Rentner. Und Blogs sind auch für alle da. Ein Blog kann jeder. Es ist, wie die frühen Visitenkartenbausätze großer Internetanbieter. Ein paar Klicks, ein paar persönliche Angaben und *schwupps* schon steht das Gerüst. Man muß nur Inhalte einbringen.
Während sich der Jungspunt erstmal ein Synonym zulegt, eine anonyme Mailadresse anlegt und einen Scheiß auf ein Impressum gibt, neigt der gewachsene Mensch, mit Hintergrundbildung dazu, sich gesetzeskonform zu Verhalten. Er hat seine Mailadresse beim Telefonriesen oder etablierten Anbietern, die die postalischen Adressen prüfen – außerdem legt er ein Impressum an.
Während die Jugend gnadenlos Musikvideos und anderes Copyright-belastetes Material einstellt, neigt die gesetztere Generation zu Text. Manchmal bebildert.
Und in der Parallelwelt zu den kreativen Ansätzen des Webs, stehen Anwälte, Rechteverwerter und Geschäftemacher in den Startlöchern, um jeden Morgen auf’s Neue auf Beutefang zu gehen. Wo hat jemand das Copyright verletzt? Wer hat unerlaubt zitiert? Wer bietet Musik zum Download? Wen kann ich auf meine Seite locken und ihm statt kostenlosen Content ein Abo andrehen?
Tausende, wenn nicht zehntausende Abmahnungen werden jeden Werktag auf den Weg gebracht. Menschen zur Unterlassung aufgefordert. Strafbewärt – mit Kostennote. Oder einfach ungerechtfertigte Forderungen aufgerechnet – mit anschließendem Mahnverfahren, aber stets ohne Gerichtsbarkeit.
Wen trifft es?
Die, die ermittelbar sind. Die, die ihr ordentliches Impressum angeben, die, die ihre korrekten Adressdaten bei soliden Diensten angeben. Die, die vielleicht was zu sagen haben. Die, die nicht wissen, wie sie ihre IP-Adresse verschleiern. In der Regel trifft es jedoch nicht die, die Filme im Kino abfilmen, die, die im großen Stil Musik vor dem VÖ-Datum in Tauschbörsen einstellen und auch nicht die, die wissentlich und ständig gegen Rechte anderer verstoßen, um selbst möglichst viele Hits zu kriegen und Reputation zu sammeln. Die halten sich genauso schadlos, wie die Abmahnanwälte, die großen illegalen Tauschbörsen usw.
Der Depp ist der kleine Fisch oder auch der Aufrechte in dieser Gesellschaft.
Mich wundert es da nicht, wenn ich sehe, wie viele meiner Kontakte in die Anonymität verschwinden, ein neues Blog ohne Impressum aufmachen und sich über Verschlüsselungs- und Verschleierungstechniken schlau machen.
Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Ich selbst profitiere vom Urheberschutz. Ich produziere beispielsweise Fotos. Und die Verwendung der Fotos möchte ich natürlich auch selbst bestimmen.
Wenn aber der Rentner Heinz Kowalski in seinem Blogeintrag über seine letzte Kreuzfahrt ein Bild von mir zur Bebilderung hinzunimmt, weil er zeigen möchte, was für geile Schnallen dort rumliefen, dann kann ich ihn selbst darauf ansprechen, wenn es mich stört. Denn Heinz Kowalski hat vermutlich ein Impressum. Und Heinz Kowalski wird meiner Aufforderung vermutlich auch nachkommen und das Bild entfernen. Da muß ich keinen Anwalt beauftragen, der einen Streitwert von 10.000 Euro festlegt und dem Heinz eine Rechnung über 1.700 Euro schickt.
Das Web ist unentspannt geworden. Ich selbst habe schon drei Abmahnungen und Unterlassungserklärungen erhalten. Dabei halte ich mich nicht gerade für einen Vandalen unter den Bloggern.
Gesetzgeber, Gerichtsbarkeiten, Abmahnanwälte und Menschen mit unlöblichen Absichten treiben immer mehr Menschen in die Anonymität des Netzes. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dem noch lange Stand halte.
Ich merke, dass man zusehends zum Karl Arsch der bösen Menschen wird, wenn man zu sich selbst steht und kein Alias verwendet. Der Gesetzgeber hat einen guten Schritt getan, als er die Kosten für Abmahnungen gegen Privatleute gedeckelt hat. Das ist eine vernünftige Reglementierung, weil es zwar die Netzwelt betrifft, aber eigentlich nicht die virtuelle Welt beeinflusst, sondern die reale Welt. Die Abzocker unter den Abmahnern. Ich wünsche mir vom Gesetzgeber mehr Schritte in diese Richtung. Es gibt so viele Firmen, deren einziger Sinn in der Abzocke besteht – und auch bei Rechteverwertern häuft sich das. Dort geht es ja soweit, dass Staatsanwaltschaften zu Gehilfen der Rechteverwertern umfunktioniert werden. Das zahlt unterm Strich der Steuerzahler.
Möge der Gesetzgeber Vorraussetzungen schaffen, die eine schnellere Verfolgung von windigen Firmen und Abzockern ermöglicht. Und möge der Gesetzgeber zeitgleich für Chancengleichheit auf Seite der verfolgten, einfachen Mitbürger schaffen. Für deren Verfolgung gibt es nämlich einfache und schnelle Verfahren.
Für ein entspannteres und faireres Netz, in dem man nicht ständig das Gefühl hat, dass 200 Menschen und Institutionen auf den nächsten Fehltritt von mir warten, um mich abzustrafen…
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